Detailansicht

Die Sünde

Das schöne Leben und seine Feinde
ISBN/EAN: 9783446206724
Umbreit-Nr.: 1502260

Sprache: Deutsch
Umfang: 288 S.
Format in cm: 2.6 x 21.8 x 15
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 04.03.2006
€ 21,50
(inklusive MwSt.)
Nicht lieferbar
  • Zusatztext
    • Das Konzept der Sünde gilt in unserer heutigen Gesellschaft als überholt. Die sieben Ursünden Völlerei, Unkeuschheit, Habsucht, Trägheit, Zorn, Hoffart und Neid vertragen sich schlecht mit unserem Lebensstil, in dem raffiniertes Essen, ein ausgefülltes Sexualleben, Schnäppchen im Internet und Shopping als Garanten eines erfüllten Lebens gelten. Gerhard Schulze zeigt in diesem Buch, wie sich unsere Gesellschaft vom Konzept der Sünde distanziert hat, und wird damit kontroverse Diskussionen auslösen.
  • Autorenportrait
    • Gerhard Schulze, geboren 1944, war bis 2009 Professor für Soziologie in Bamberg. Seine Forschungsschwerpunkte waren Kultursoziologie und Theorien des sozialen Wandels. Gerhard Schulze ist außerdem ein gefragter Berater von Konzernen, Parteien und anderen Organisationen, er schreibt regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.
  • Leseprobe
    • <b>Die sieben Todsünden</b> Einst galt das allzu Menschliche als sündig; die sieben Todsünden übersetzten dieses Stigma in die Alltagswirklichkeit. Sie zeichneten nach, wozu Menschen aller Zeiten und Kulturen neigen, wenn sie spontanen Regungen nachgeben. Wer an sie glaubte, musste seine alltäglichen Lüste und Leidenschaften als Fluch empfinden. Genussvolles Essen, Gefühlsausbrüche, Sex, Besitzstreben, Selbstsicherheit, Entspannung, Ehrgeiz - die Fülle des Lebens sollte nicht sein. In der Kultur des Westens wirken die sieben Todsünden heute fremdartig, ja abseitig. Völlerei, Unkeuschheit, Hoffart - aus dem Alltagssprachgebrauch sind diese Worte ebenso verschwunden wie der mit ihnen verbundene Fluch auf das irdische Glück. Aus den Worten weht einem die Luft der Vergangenheit entgegen. Ihr Flair scheint fast schon romantisch, als würde man sich aus dem Stress einer modernen Großstadt für kurze Zeit in eine alte Kirche zurückziehen, in der es nach Moder, Weihrauch und versteinertem Holz riecht. Artefakte, die lange vor den ersten Kirchen entstanden sind, muten im Vergleich dazu fast schon modern an. Ein etruskisches Fresko in einer Nekropole aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert beispielsweise zeigt einen Mann und eine Frau in einer intimen Situation.1 Die Phantasie, die das Wort 'intim' bei heutigen Lesern weckt, passt jedoch nicht so recht zur Atmosphäre des Bildes, denn es scheint frei von sexuellen oder wenigstens erotischen Anspielungen zu sein. Um es zu entschlüsseln, muss man der reinen Bildsprache vertrauen, weil die Texte der Etrusker bis heute rätselhaft geblieben sind. Meine vorherrschende Assoziation zu dem Fresko ist der Eindruck von Freundschaft, Zugewandtheit und gegenseitigem Respekt. Und viele Details enthalten noch eine zweite Botschaft: Dieses Paar macht sich das Leben schön. Mann und Frau befinden sich an einem guten Ort, sie haben es sich bequem gemacht, sie essen und trinken, schenken sich etwas, tragen Schmuck, sind im Hier und Jetzt angekommen. Das Bild ist weder prüde noch obszön, vielmehr ist es sexuell entspannt - 'mehr' wird weder angedeutet noch ausgeschlossen, aber bei so viel Lebensbejahung könnte es durchaus dazugehören. Betrachtet man das Bild dagegen aus dem Geist der sieben Todsünden heraus, wirkt die Situation verfänglich. Durch diese Brille gesehen, lauert im Hintergrund schon die Unkeuschheit. Weitere Todsünden sind offensichtlich: die Trägheit, die Völlerei, die Habgier und - als schlimmste von allen - die Hoffart. Papst GregorI. hätte vielleicht geurteilt: Hier sind alle Dämme gebrochen; auch Neid und Raserei werden nicht lange auf sich warten lassen. Aus der Spannung zwischen modernem Lebensgefühl und längst verhalltem Fluch bezieht der Film Seven von David Fincher seinen düsteren Reiz. Wie vergessen die sieben Todsünden inzwischen sind, zeigt sich in der anfänglichen Ratlosigkeit der Ermittler (gespielt von Morgan Freeman und Brad Pitt) angesichts einer Serie bizarrer Taten. Nur langsam entschlüsseln sie das allen Morden gemeinsame Muster, und erst der Mörder selbst liefert am Schluss die Auflösung. Alle Mordopfer sind Figuren der modernen Alltagswelt: ein Sozialfall mit Übergewicht, ein Rechtsanwalt, eine Prostituierte, eine gutaussehende Singlefrau, ein Drogensüchtiger. Verstört registriert das Publikum, dass diese Typen der Moderne genau deshalb mit dem Tod bestraft werden, weil sie Typen der Moderne sind wie es selbst: Menschen, die ihren Bedürfnissen, ihrer Gier, ihren Phantasien nachgehen, jeder auf seine höchstpersönliche Art. Der Mörder richtet sich allerdings nach einer ganz anderen Generalformel. An jedem Tatort hinterlässt er ein Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort steht, eine der sieben Todsünden. Die Begriffe einer vergessenen Moral der Missbilligung des Menschlichen stellen einen Zusammenhang zwischen dem Alltag des Opfers und der Form der Tötung her. Der Mörder treibt die jeweilige Todsünde, die er im Leben des Opfers verwirklich ...