Detailansicht

Leitbild Menschenwürde

Wie Selbsthilfeinitiativen den Gesundheits- und Sozialbereich demokratisieren, Kultur der Medizin 34
ISBN/EAN: 9783593394985
Umbreit-Nr.: 1113546

Sprache: Deutsch
Umfang: 277 S.
Format in cm: 1.8 x 21.3 x 14
Einband: Paperback

Erschienen am 08.08.2011
Auflage: 1/2011
€ 39,00
(inklusive MwSt.)
Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen
  • Zusatztext
    • Vor 40 Jahren haben Selbsthilfeinitiativen die menschenunwürdigen Zustände in Erziehungsheimen und psychiatrischen Krankenhäusern angeprangert und mit neuen Konzepten und Handlungsmodellen zu einem Perspektivenwechsel beigetragen: Menschenwürde kann im Gesundheits- und Sozialbereich nur bestehen, wenn Patienten und Nutzer in Beratung, Behandlung und Betreuung als selbstständig handelnde Personen anerkannt werden. Hans Dietrich Engelhardt zeigt die Entwicklung der Selbsthilfeinitiativen und zeichnet nach, wie die alternativen Leitbilder Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung schließlich zu grundlegenden Säulen des Sozialgesetzbuches wurden.
  • Kurztext
    • Vor 40 Jahren haben Selbsthilfeinitiativen die menschenunwürdigen Zustände in Erziehungsheimen und psychiatrischen Krankenhäusern angeprangert und mit neuen Konzepten und Handlungsmodellen zu einem Perspektivenwechsel beigetragen: Menschenwürde kann im Gesundheits- und Sozialbereich nur bestehen, wenn Patienten und Nutzer in Beratung, Behandlung und Betreuung als selbstständig handelnde Personen anerkannt werden. Hans Dietrich Engelhardt zeigt die Entwicklung der Selbsthilfeinitiativen und zeichnet nach, wie die alternativen Leitbilder Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung schließlich zu grundlegenden Säulen des Sozialgesetzbuches wurden.
  • Autorenportrait
    • Hans Dietrich Engelhardt war von 1975 bis 2003 Professor für Soziologie und soziale Arbeit an der Hochschule München.
  • Leseprobe
    • Dieses Buch ist als wissenschaftliche Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig in die Zukunft gedacht. Es befasst sich mit der "neuen" Selbsthilfebewegung, ihrer Eigenart, ihren bisher aufgewiesenen Wirkungen und Leistungen für die Teilnehmerinnen; es zeichnet nach, wie es den Selbsthilfeinitiativen in der Auseinandersetzung mit den etablierten gesellschaftlichen Institutionen im Verlauf von vier Jahrzehnten gelungen ist, Gesundheits- und Sozialbereich zu demokratisieren und zu modernisieren; damit entwickelt es zugleich die aktuellen, grundlegenden und zukunftweisenden Leitbilder für die Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens: Selbstbestimmung in eigenen Belangen, Mitbestimmung bei Angelegenheiten, die die eigene Person im Verbund mit anderen betreffen, sowie Mitwirkung bei persönlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Diese Beteiligungsformen sind zentrale Wertorientierungen der Selbsthilfezusammenschlüsse und darüber hinaus der sozialen Bewegungen und prägen ihre Vorstellung von Menschenwürde in entscheidender Weise. Menschenwürde ist danach erst dann eine reale Größe, wenn Menschen diese Beteiligungsformen alltäglich in allen Lebensbereichen, auch im Gesundheits- und Sozialbereich vollziehen können. Als gelebte Überzeugung und Vision entfaltet dieses Verständnis von Menschenwürde eine kreative soziale Dynamik: es versteht Menschen nicht als Objekte von Fachkräften, sondern stets als handelnde Subjekte; es verzichtet auf vordefinierte Rollen und Verfahrensweisen, vermindert damit bisher bestehende Distanzen zwischen Menschen und befreit Patienten und Nutzer von Zwängen, insbesondere zwischen Fachkräften und Nutzern; es lässt in symmetrischen Beziehungen neue Kommunikationsformen entstehen und verbindet damit bisher getrennte Menschen; es schafft Räume, um individuelle Fähigkeiten und die persönliche Identität zu entwickeln; es wird als Gemeinsamkeit stiftende Kraft zum Wirkmechanismus für innovative Ideen und Handlungskonzepte. Menschenwürde als Leitbild und als Antriebskraft zur Entwicklung der persönlichen Lebensqualität einerseits und zur Demokratisierung und Modernisierung des Gesundheits- und Sozialbereichs andererseits - das ist das Thema dieses Buches. Seit 1949 ist die Bundesrepublik ein demokratisches System. Betrachtet man Demokratie als einen Prozess, der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung der Gesellschaftsmitglieder über den politischen Bereich hinaus auch in allen anderen Lebensbereichen beinhaltet, wie unsere Verfassung dies versteht, so hat dieser Prozess der Demokratisierung bereits einerseits vor vielen Jahrhunderten in den Bruderschaften, Zünften, Städten, religiösen Bewegungen, insbesondere mit der Reformation begonnen und sich später mit den Arbeiter- und Sozialvereinen fortgesetzt, nicht ohne immer wieder auch mehr oder weniger gewaltsame Rückbildungen zu erfahren. Andererseits ist Demokratisierung als Umverteilung von Macht und Entscheidungsbefugnissen auf die Gesellschaftsmitglieder auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keineswegs abgeschlossen, wie die aktuellen Konflikte zwischen Individualrechten und gesellschaftlichen Ansprüchen sowie Notwenigkeiten z.B. in Hinsicht auf innere Sicherheit und Internet immer wieder neu zeigen und kontinuierlich das Verfassungsgericht beschäftigen. Es ist davon auszugehen, dass sich der Demokratisierungsprozess in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befindet und jeweils eigenen Verläufen folgt. Während sich zum Beispiel in den Städten, in den religiösen mittelalterlichen Protestbewegungen, dann umfassend in den protestantischen Kirchen, in Wirtschaft und Kultur bzw. Freizeit und schließlich in der Politik typische Formen der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung teilweise schon frühzeitig, aber auch hier nicht synchron, herausgebildet haben und weiter entwickeln, sind der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich ausgesprochene Nachzügler und Spätentwickler. Als besonders demokratieresistent hat sich bisher die römisch-katholische Kirche erwiesen. Soweit bei den genannten Bereichen die Zuständigkeit bei den Bundesländern liegt, sind auch hier markante Entwicklungsunterschiede festzustellen (Osel 2010: 6). Zu Beginn der achtziger Jahre kann man im Gesundheits- und Sozialbereich die Lage der Demokratisierung, d.h. der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Patienten und Nutzer folgendermaßen zusammenfassen: Im Sozial und Gesundheitsbereich gilt fast ungebrochen das autonome Berufsmodell der Professionen, das sowohl vielfältige Hilfeleistungen, aber auch weitreichende Kontrolle beinhaltet (Keupp 1982; Rerrich 1982; Runder Tisch Heimerziehung 2010), obwohl sich bereits seit 1970 viele Selbsthilfezusammenschlüsse gegen diese Bevormundung und Verplanung wehren (Trojan 1980, 1983, 1985) und Beteiligungsrechte einfordern. "Bestimmende Elemente der Abhängigkeit sind professionelle Definitionsmacht sowie Institutionalisierung von Verfahren. Beides macht die Professionen zu Instanzen sozialer Kontrolle" (Forschungsverbund 1987: 14). Patienten und Nutzer bzw. Klienten haben als Personen wenig oder keine individuellen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte, im Sozialversicherungsbereich Mitwirkungspflichten ohne Selbstbestimmung (Riedmüller 1981). Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte bestehen in der Form der - inhaltlich irrelevanten - Sozialwahlen. Es gibt keine institutionalisierten Vertretungen von Patienten bzw. Nutzern. Gesundheits und Sozialpolitiker, öffentliche und freie Träger im Sozial und Gesundheitswesen sowie Berufsverbände treten zur besseren Versorgung der Betroffenen für eine quantitative Vermehrung der Angebote ein, was von 1970 bis 1975 durch die Bundesregierung auch geschah mit enttäuschender Wirkung. Deshalb und vor allem wegen der verbreitet Menschen verachtenden Zustände primär in heimartigen Einrichtungen fordern die Selbsthilfeinitiativen wie auch viele Forscher qualitative Veränderungen in der Form von Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung für die von Problemen betroffenen Menschen ein (von Ferber 1976; Kickbusch/Trojan 1981; Trojan 1983, 1985, 1986; Grunow 1983; Engelhardt 1991; Badura 1999; Mathis 1999; Francke/Hart 2001; HundertmarkMayser 2008; Bogenschütz 2008; um nur einige zu nennen). Demokratisierung als Umverteilung von Einfluss und Entscheidungsbefugnissen auf die Bürger folgt unterschiedlichen Mustern. Eines davon ist das Gesetzgebungsverfahren. In der strukturell verfestigten, auf wirtschaftliche Prosperität fixierten Strukturenlandschaft, die um 1970 und auch später in der Bundesrepublik bestand, fehlte bei den gesellschaftlichen Teileliten das Gespür dafür, dass die Devise "mehr vom Gleichen" die neu aufkeimenden Bedürfnisse, Ansprüche und Zukunftsvorstellungen primär junger Gesellschaftsgruppierungen nicht befriedigen, aber auch die anstehenden Probleme nicht lösen konnte. Junge Menschen und ältere Vordenker setzten Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung für autoritär geprägte Gesellschaftsbereiche - zum Beispiel Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich - und neue inhaltliche Ziele - zum Beispiel Umwelt, Gleichberechtigung der Frauen, Ablehnung von Atomkraftwerken, Abschaffung von Heimen - auf die gesellschaftliche Tagesordnung. Da Teile der jüngeren Generation mit ihren Demokratisierungsbestrebungen und neuen Zielen keinen Zugang zu den routinemäßigen Aushandlungsprozessen der anders orientierten Teileliten hatten und damit auch auf andere Weise keine nennenswerte Chance auf Gehör und Einfluss fanden, haben sie für die geforderten Veränderungen einen anderen Weg gewählt: die Bildung von Gegenmacht durch die sozialen Bewegungen, die die 1970er und 1980er Jahre prägten. Mit sozialen Bewegungen meine ich mehr oder weniger organisierte Gruppierungen von Menschen, die sich zur Abwehr von Bedrohungen, zur Wahrung vitaler Interessen oder zur Erlangung eigener Gestaltungsrechte zusammenschließen und i...