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Jenseits der Anarchie
Weltordnungsentwürfe im frühen 20.Jahrhundert, Normative Orders 13
ISBN/EAN: 9783593500874
Umbreit-Nr.: 5905187
Sprache:
Deutsch
Umfang: 310 S.
Format in cm: 2 x 21.3 x 14.2
Einband:
kartoniertes Buch
Erschienen am 18.06.2014
Auflage: 1/2014
€ 34,90
(inklusive MwSt.)
Nachfragen
- Kurztext
- Die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs löste einen regelrechten Boom an Weltordnungsentwürfen aus. Europas Akademiker, Diplomaten und Publizisten diskutierten Möglichkeiten, die internationale 'Anarchie' zu überwinden. Ihre Ideen bezogen sie aus liberalen, sozialistischen und christlichen Traditionen des politischen Denkens. Internationale Organisationen, Völkerrecht und Wirtschaftsreformen sollten helfen, den Krieg aus der Welt zu schaffen. Der Band bietet den ersten deutschsprachigen Überblick über die - ebenso vielfältigen wie originellen - Anfänge einer Debatte zu Chancen internationaler Kooperation und Friedenssicherung, die bis heute andauert.
- Autorenportrait
- Jens Steffek ist Professor für Transnationales Regieren an der TU Darmstadt. Leonie Holthaus, M.A., ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.
- Schlagzeile
- Normative Orders
- Leseprobe
- Einleitung: Der vergessene "Idealismus" in der Disziplin Internationale Beziehungen Jens Steffek und Leonie Holthaus "Es würde nie wieder zu einem Krieg kommen können, da war sich Norman Angell sicher". Mit diesen Worten eröffnet der Journalist Florian Illies das "Juni"-Kapitel seines sehr erfolgreichen Buchs 1913 - der Sommer des Jahrhunderts. Der Engländer Norman Angell war, gemessen an der Zahl der verkauften Bücher, einer der wichtigsten Theoretiker der Internationalen Beziehungen (IB) überhaupt. Allein sein Hauptwerk The Great Illusion (1910) wurde sofort in mehrere Sprachen übersetzt und erreichte eine Millionenauflage. In Deutschland erschienen gleich zwei verschiedene Übersetzungen, eine mit dem Titel Die große Täuschung, die andere als Die falsche Rechnung. Laut Illies legt Angell in diesem Buch "dar, dass das Zeitalter der Globalisierung Weltkriege unmöglich mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien. [] Angells These überzeugte die Intellektuellen in aller Welt". Viele Rezensenten von Illies' Buch nahmen diese Darstellung bereitwillig auf: ganz Europa stand im Jahr 1913 am Abgrund des Krieges, aber man glaubte lieber einer hanebüchenen Fehlprognose, der "großen Illusion" eines britischen Publizisten. Diese Version konnte man im Donaukurier ebenso lesen wie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, und selbst im englischen Guardian wurde sie wiederholt. Am 5. Februar 2013 griff auch Peter Friedrich, Europaminister des Landes Baden-Württemberg, die Angell-Referenz vom angeblich unmöglichen Krieg aus Illies' Buch in einer europapolitischen Rede auf. Nur einer widersprach dem Unfug öffentlich: im Kulturteil der Braunschweiger Zeitung publizierte Andreas Matthies, Geschichtslehrer in Gifhorn, einen Beitrag, in dem er darlegt, wie falsch Illies Angells Thesen wiedergibt. Weder war sich Angell sicher, dass es nie wieder Krieg geben würde, noch hat er das irgendwo behauptet. Im Gegenteil: Norman Angell warnte mit großer Dringlichkeit vor dem europäischen Wettrüsten und versuchte seine Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass sich Krieg unter den Bedingungen wirtschaftlicher Interdependenz auch für den Sieger nicht lohnt. Die weit verbreitete Ansicht, dass sich ein Krieg durchaus lohnen könnte, das war die große Täuschung, oder auch falsche Rechnung, die Angell meinte, und er schrieb seine Bücher, weil er glaubte, dass noch zu viele seiner Zeitgenossen dieser Täuschung aufsaßen. Der Mythos, Norman Angell habe kurz vor 1914 den Krieg für überwunden erklärt, hält sich dennoch auch in wissenschaftlichen Kreisen mit großer Hartnäckigkeit, und es gab ihn schon zu seinen Lebzeiten (siehe den Beitrag von Osiander in diesem Band). Woran das liegt, ist unklar, schließlich ist die Great Illusion selbst ein sehr eingängiger und unzweideutig geschriebener Text. Frappierend ist jedoch, dass öffentlichen Fehlurteilen wie dem von Illies heute fast niemand mehr widerspricht, weil kaum noch jemand zu wissen scheint, wer Norman Angell war und was er schrieb. Daran ist die deutsche Politikwissenschaft durchaus mitschuldig. Konfrontiert man an einer deutschen Universität fortgeschrittene Studierende der Internationalen Beziehungen mit dem Namen Angell, so blickt man meist in fragende Gesichter. Angell gehört zu einer Generation von Autoren, gewöhnlich als "Idealisten" der IB bezeichnet, die aus dem deutschen politikwissenschaftlichen Kanon praktisch verbannt wurden. Der Begriff der "Idealisten" (oder auch "Utopisten") ist dabei ebenso unscharf wie tendenziell herabsetzend. Er wurde in polemischer Absicht von Anhängern einer rivalisierenden "realistischen" Denkschule eingeführt, die die Möglichkeit politischen Fortschritts durch internationale Organisationen, Völkerrecht und Kooperation als naiv und weltfremd verwarf. Die realistische Kritik repräsentiert aber nicht nur eine der üblichen Meinungsverschiedenheiten unter Wissenschaftlern, sondern war ein veritabler Fall akademischen Rufmords. Der britische Historiker E. H. Carr eröffnete diesen mit einer pauschalen Abkanzelung der "Utopisten", die für die junge Disziplin der IB folgenreich sein sollte. Seine Twenty Years' Crisis (1939) ist eine polemische Abrechnung mit dem Denken über internationale Beziehungen in der Zwischenkriegszeit, oder besser, mit dem was Carr als solches darstellte. Seine Vorwürfe gegen die selten namentlich genannten Utopisten wogen schwer: statt mit Fakten hätten sie sich mit Wunschdenken beschäftigt. Völlig untauglich sei ihr Vorgehen gewesen, vergleichbar mit dem der mittelalterlichen Alchemisten, ohne systematische Überprüfung realweltlicher Kausalzusammenhänge. Die Utopisten verkörperten für ihn eine Frühphase der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen "in which wishing prevails over thinking". Und nicht zuletzt, so wird bei Carr zumindest insinuiert, hätten die Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen der Utopisten schlimme realweltliche Konsequenzen gehabt. Nun ist E. H. Carrs Kritik an der Vorgehensweise der frühen IB-Autoren nicht völlig unberechtigt. Sie betrieben keine systematisch vergleichende Sozialforschung, auch wenn einige Autoren durchaus empirische Studien unternahmen. Andererseits geht auch Carr in seiner Twenty Years' Crisis nicht wirklich empirisch-analytisch vor, und bezüglich möglicher Fehleinschätzungen der weltpolitischen Lage könnte man mit ihm mindestens ebenso hart ins Gericht gehen. Bekanntlich fand sich in der Erstausgabe der Twenty Years' Crisis von 1939 noch ein Plädoyer für die britische Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland. Diese peinliche Stelle wurde in der Neuauflage von 1946 diskret getilgt, und Carr konnte als einer der Väter nüchtern-realistischer Weltbetrachtung und schonungsloser Analyse der machtpolitischen Realitäten in das kollektive Gedächtnis der Disziplin eingehen. Dass viele britische Idealisten wie Norman Angell, G. D. H. Cole und Alfred Zimmern den Charakter des Naziregimes viel realistischer einschätzten und ein härteres Vorgehen gegen Hitler forderten als Carr gehört zu den nicht wenigen Ironien der disziplinären Geschichte der IB. Zu diesen Ironien gehört auch die hartnäckige Legende, in den USA ganz pointiert verbreitet durch den deutschen Emigranten Hans Hermann (John H.) Herz, wonach die Idealisten den anarchischen Charakter des internationalen Systems ebenso verkannt hätten wie dessen Folgen für das Verhalten von Staaten. In Wahrheit waren es jedoch gerade die gescholtenen "idealist internationalists", die das Anarchie-Problem zuerst formulierten. Die Anarchie-Metapher wurde prominent durch G. Lowes Dickinsons Buch The European Anarchy aus dem Kriegsjahr 1916, später erweitert zu The International Anarchy (1926) (siehe auch den Beitrag von Holthaus in diesem Band). Und auch die Folgeprobleme einer fehlenden Zentralgewalt im internationalen System waren den Idealisten geläufig. Dass etwa die effektive Sanktionierung von Rechtsverstößen das zentrale Problem jeden Systems kollektiver Sicherheit ist, diskutierte David Mitrany 1925 in Buchlänge. David Davies' zweifellos utopische Vorschläge für eine internationale Luftwaffe zur Durchsetzung von Völkerbundsbeschlüssen erwuchsen aus der genauen Analyse der Implementa-tionsproblematik und einer sehr realistischen Einschätzung des militärischen Potenzials verschiedener Waffengattung. Die Idealisten waren sich der Probleme des Regierens "jenseits des Staats" und unter Anarchiebedingungen durchaus bewusst und versuchten ihnen mit der Konzeption des "international government" zu begegnen. Darunter wurde jedoch meist keine zentrale Weltregierung verstanden, sondern "hybride Weltordnungen", bzw. Zusammenspiele diverser Institutionen und Regu-lationsmechanismen, die heute eher unter dem Schlagwort der Global Governance diskutiert werden. Auch diese analytischen Kontinuitäten zeigen, dass es durchaus lohnenswert sein kann, sich noch einmal den Idealisten zuzuwenden. In der anglophonen, insbesondere in der britischen Politi...